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Leben

Schaffen Pandemien eine altruistische Wende?

Schaffen Pandemien eine altruistische Wende? Über eine Neuausrichtung im Zuge der Coronakrise.

Der französisch-deutsche Historiker Étienne François schrieb im Juni 2020 in seinem Essay ‚Eine Krise ohne Beispiel‘, dass ihn die „ausgeprägte emotionale und existenzielle Dimension der gegenwärtigen Krise“ überrasche. Als Grund hierfür nannte er u.a., dass „die gegenwärtige Krise verhältnismäßig wenig Todesopfer fordert“. Zum Vergleich nannte er die Opfer, die u.a. die ‚Hongkonger Grippe‘ (1968-1970) sowie die ‚Spanische Grippe“ (1918–1920) ihrerseits forderten. So ließen bei der Spanischen Grippe zwischen 20 und 50 Mio. Menschen ihr Leben. Bei der Hongkonger Grippe waren es mind. 1 Mio. Opfer. Als Étienne François sein Essay schrieb, lag die Todeszahl der an oder mit Covid-19 Verstorbenen weltweit bei rd. 500.000 und damit unterhalb der absoluten Zahlen der vorangegangenen, genannten Pandemien. Dabei hat er, so wie viele andere in diesem frühen Stadium der Pandemie, außer Acht gelassen, dass es sich bei den angeführten Pandemien um beendete Krisen handelte. Sowohl die Spanische als auch die Hongkonger Grippe dauerten jeweils rd. 2 Jahre. Von einer ähnlichen Dauer ist bei der Coronapandemie ebenfalls auszugehen, wenn man sich die bislang vergangenen Zeit und die noch nötige Zeit bis zu einem messbaren Impferfolg vor Augen führt. Inzwischen liegt auch in der aktuellen Krise die Anzahl der Todesopfer bei 2.312.278 (zuletzt geprüft am: 09.02.2021, 12:10 Uhr). Was es mit einem derartigen Wachstum auf sich hat, erklärte die promovierte Naturwissenschaftlerin und Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel im Oktober 2020 und appellierte an die Bürger “Ich bitte Sie: Verzichten Sie auf jede Reise, die nicht wirklich zwingend notwendig ist, auf jede Feier, die nicht wirklich zwingend notwendig ist. Bitte bleiben Sie, wenn immer möglich, zu Hause, an Ihrem Wohnort.” (Tagesschau 17.10.2020). Der Appell ist im Sande verlaufen und hat zu einem erneuten Lockdown geführt, der weitreichende Einschnitte in die Freiheitsrechte der Bevölkerung zur Folge hat. Vor diesem Hintergrund ist es zumindest diskutierenswert, ob wir in einer gesellschaftlichen Ordnung leben, in der Altruismus gegenüber Egoismus den Kürzeren zieht und ob, bei einer fortdauernden Krise, es dahingehend zu einem gesellschaftlichen Umbruch kommen könnte.

Noch immer haben wir die Bilder vor Augen, wie im ersten Lockdown, im April 2020, die Menschen auf ihren Balkonen oder offenen Fenster standen und für die Menschen in der Pflege und für die Ärzt*innen klatschten. Es tauchten Videos auf YouTube auf, in denen man erlebte, wie Musiker in Italien auf ihren Balkonen oder Dachterrassen musizierten oder die Menschen gemeinsam sangen. Ein Gefühl der Solidarität breitete sich aus und plötzlich schien es möglich, diese Viruspandemie gemeinsam zu überwinden. Die Fallzahlen gingen herunter, die Krankenhäuser kamen nicht an ihre Kapazitätsgrenzen und der Lockdown wurde Anfang, Mitte Juni gelockert. Vor diesem Hintergrund ist der hoffnungsvolle Tonfall von Étienne Francois kein Wunder. Dennoch blieb ein fahler Beigeschmack. Im Frühjahr fehlte es in den Supermarktregalen an Grundlegendem. Die Menschen begannen Nudeln, Reis und sogar Toilettenpapier zu horten, als wäre ein mit Papier gesäuberter Hintern in einer Pandemie das Wichtigste. Im Früh- und Spätsommer beäugte man die Reiserückkehrer skeptisch und die Frage wurde gestellt: Musste man in einer weltweiten Pandemie tatsächlich in den Urlaub fliegen? Hat der Mensch ein Recht auf seinen Strandurlaub in der Karibik oder Partys auf einer spanischen Baleareninsel? Hochzeiten wurden wieder in größeren Gesellschaften gefeiert, als würde das Virus an einem solchen Feiertag rund um die Hochzeitsgesellschaft einen großen Bogen machen. Und natürlich wurde auf die Jugendlichen geschimpft, die durch ihre Feierwut an den Wochenenden das Pandemiegeschehen zusätzlich befeuern würden. Gleichzeitig schickte man diese Altersgruppe aber wieder in den Präsenzunterricht an Grund- und weiterführenden (auch berufsbildenden) Schulen, wo die Handhabung einer Maskenpflicht je nach Bundesland ganz unterschiedlich geregelt wurde. Meldungen über Anti-Corona- Demonstrationen beherrschten die Nachrichten. Verschwörungstheoretiker werfen einer Weltelite, an deren Spitze der Microsoftmitbegründer Bill Gates stehe, vor, die Pandemie erfunden zu haben, um mit einem Impfstoff den Geist eines jeden Menschen in eine Cloud hochzuladen. Wenn das allerdings möglich sein sollte, frage ich mich, wieso ich mich alltäglich noch mit Funklöchern, abstürzendem WLAN und mangelnder oder fehlender Internetversorgung, vor allem auf dem Land, herumschlage.

Sind denn alle Menschen um mich herum plötzlich verrückt geworden? Immer dann, wenn man dieses Gefühl hat, sollte man überprüfen, ob man nicht selbst verrückt sei. Schließlich sind die Verrückten und Egoistischen doch immer die anderen.

Wir bewerten die Menschen nach dem was sie tun, wobei unser Augenmerk auf den vermeintlichen Fehlern liegt. Dabei muss sich jeder einzelne eigentlich nur vor einer einzigen Person verantworten: sich selbst. Wir hatten unsere Hochzeitsfeier für Anfang April geplant und ich habe Ende März verzweifelt nach einer Lösung gesucht, doch noch mit Familie und Freunden feiern zu können. Ende März waren zehn Menschen im Standesamt erlaubt. Natürlich hätte ich gerne, unter anderem, meine Großeltern dabeigehabt. Die beiden haben allerdings schon das achtzigste Lebensjahr weit überschritten und gehören damit zur Risikogruppe. War ich egoistisch, als ich bis zuletzt gehofft hatte, man findet eine Lösung, dass die Beiden dabei sein konnten? Die Entscheidung wurde uns abgenommen, als man sämtliche Gäste verbot und lediglich dem Brautpaar den Zutritt in die heiligen Hallen der Standesbeamtin gewährte. Und trug ich nicht auch einen kleinen Funken Neid in mir, als meine beste Freundin zusammen mit ihrem Mann im Frühsommer für eine Woche nach Rhodos fliegen konnten? Auch unseren im Vergleich bescheidenen Herbsturlaub bei der Familie in Bayern haben wir erst zwei Tage vor Antritt abgesagt. Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.

Krisen sind Extremsituationen. Sie ähneln Projekten: Sie beginnen, werden geplant, wieder geändert, und zu einem Ende geführt, wenn die Lösung für ein Problem gefunden ist. Dabei ist es im ersten Moment egal, ob nun ein Hurrikan die amerikanische Küste heimsucht, ein Starkregen die Elbe über die Ufer steigen lässt oder sich ein Virus über den gesamten Globus ausbreitet. Am Anfang hilft man sich. Man schleppt Sandsäcke, kauft für die Nachbarn ein und klatscht für die Pflegekräfte. Allerdings hat die Solidarität bei Sturmschäden und Hochwasser ein Verfallsdatum. Die solidarischen Gesten, die Hilfsbereitschaft beim Wiederaufbau, sind Handlungen, die sichtlich zu einem Erfolg führen. Die Schäden sind beseitigt, die Dämme gesichert. Bei einem Virus sieht der einzelne nicht, ob seine Alltagsmaske das Leben eines anderen gerettet hat. Das Virus ist nicht sichtbar, es führt kein lobendes Feedbackgespräch über verhinderte Ansteckungen. Die Frage wird gestellt: Wie kann etwas, das ich nicht sehen kann, meinen Lebensalltag so weitgehend bestimmen? Auch hier ist es vor diesem Hintergrund kaum verwunderlich, dass Coronagegner vermeintliche Beweismittel fordern: „Wo sind die Toten, wo sind die Kranken? Wo habt ihr sie versteckt?” (Der Tagesspiegel 20.10.2020). Während man im Frühjahr noch in den Nachrichten die Bilder von überfüllten Krankenhäusern in Italien und Massengräbern auf Hart Island, New York, zu sehen bekam, fehlen diese aus Deutschland. Dabei ist es hier, dank umfangreicher gesetzlich festgelegter Persönlichkeitsrechte, gar nicht möglich, auf Intensivstationen die kranken und sterbenden Menschen zu filmen, nur um im Abendprogramm auf drastische Bilder zurückgreifen zu können. Gleichzeitig hat man sich an die Allgegenwärtigkeit des Virus gewöhnt. Der Mensch wird krisenmüde, er stumpft ab, er verdrängt. Die Stimmen werden lauter, man müsse lernen, mit dem Virus zu leben. Das stressige Projekt, weswegen man sich einschränkt, die Familie vertröstet, welches nie zu Ende geführt wird, wird zur selbstzerfressenden Normalität.

Aber was heißt es, wenn man verlangt, mit dem Virus zu leben zu lernen? Schließlich hat der Politiker und Präsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Schäuble, im Frühjahr noch gewarnt: “Nicht alles hat sich dem Schutz des Lebens unterzuordnen” (Schäuble, Wolfgang 26.04.2020). Eine der möglichen Antworten ist erschreckend. In dieser wird gefordert, dass die getroffenen Schutzmaßnahmen aufgehoben werden und zu dem Status Quo vor der Pandemie zurückgekehrt wird. Dabei wird der Tod relativiert. Es sterben nur die anderen, die Alten, die Kranken, die Vorerkrankten an diesem tückischen Virus. Eine natürliche Auslese sozusagen. Eine menschenverachtende Forderung. Eine andere Lesart ist positiver. Innerhalb kürzester Zeit konnten mehrere Vakzine entwickelt werden, die einen Schutz vor Covid-19 bieten. Wenn genügend Menschen geimpft sind, verliert das Virus so seinen Schrecken. Gleichzeitig bleibt zu hoffen, dass gewisse Erkenntnisse bleiben: Es ist nicht clever, sich mit Erkältungserscheinungen ins Büro zu begeben, was aber wiederum nicht bedeutet, dass man völlig arbeitsunfähig sei. Es können viele positive Effekte erzielt werden, wenn Arbeit und Lernen endlich neu gedacht werden und „Präsenz“ nicht mehr mit „Erfolg“ gleichgestellt wird.

Um die Frage zu beantworten, ob diese Pandemie einen dauerhaften Mentalitätsumschwung bewirken kann, mag ein weiterer Blick in die Geschichtsbücher helfen. Dies hat schließlich auch Étienne François bei seinem Essay ‚Eine Krise ohne Beispiel‘ getan und auf die Pest verwiesen. Ein Beispiel, dass ich dankbar aufgreife und im Folgenden auf das Werk ‚Die Macht der Seuche‘ des Historikers Volker Reinhardt Bezug nehme.

Die Pest fand ihren Weg, wie das Coronavirus, über die Handelswege aus China nach Europa und brach ebenfalls in mehreren Wellen über die Menschheit herein. Und genauso wie heute hatten die betroffenen Länder, damals unter anderem auch Stadtstaaten, ihre ganz eigene Methode, dieser Krise zu begegnen. Zudem trafen auch damals schon unterschiedliche Interessensgruppen aufeinander. Die Kaufleute, insbesondere an den Handels- und Umschlagspunkten, hatten keine Lust, sich durch die Pest ihre Geschäfte kaputt machen zu lassen. Vielerorts schreckte die herrschende Klasse vor harten Maßnahmen zurück, um eine Panik zu vermeiden, oder um ihren Machtanspruch weiterhin zu legitimieren. In Venedig dagegen wurde 1348, als das Virus die Stadt erreichte, die Gastronomie verboten und ein Alkoholverbot verhängt. 672 Jahre später sind die Ideen nicht viel anders. In Florenz hat es allerdings sieben Jahre gedauert, bis die Mittelschicht den Aufstand gegen diese Maßnahmen übte, und nicht lediglich ein paar wenige Monate. Ob sich die Mentalität der Menschen im vierzehnten Jahrhundert nachhaltig gewandelt hat, mag man heutzutage natürlich nicht mehr abschließend klären. Aber ein Blick in die Werke Boccaccios verrät dahingehend schon einiges und offenbart ein, um es vorsichtig auszudrücken, wenig altruistisches Menschenbild. In dieser Sammlung von insgesamt 100 Novellen wird die Geschichte von sieben Florentinern erzählt, die sich vor der schwarzen Pest in ein Landhaus außerhalb Florenz flüchten und dort, im Schutze eines Vorläufers des Social Distancing, die tödliche Gefahr mithilfe von Rollenspielen aussitzen. Dabei wird der moralische Zerfall deutlich, der alle damaligen Gesellschaftsschichten betraf. Zudem galt bei den sieben Schicksalsgenossen das Motto: „Rette sich, wer kann“. Aufgrund der drastischen und detailreichen Darstellung der Pest in Florenz, gilt das Werk heute als historische Quelle über die Pandemie. Erwähnenswert ist weiterhin das sogenannte ‚Wunder von Mailand‘. Demnach gab es in Mailand keine Pestkranken. Eine Legende besagt, dass der damalige Mailänder Herrscher Luchino Visconti drei Familien, die an der Pest erkrankten, einmauern und verhungern ließ und so eine Ausbreitung in dem Stadtstaat verhinderte. Eine drastische Maßnahme, die sich, im angepassten Rahmen natürlich, in der Forderung der ‚Zero-Covid‘-Anhänger wiederfindet.

Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard prägte die Forderung „Vorwärts leben – rückwärts verstehen“, und gibt so den Rat, aus der Geschichte zu lernen und das gelernte Wissen zukünftig anzuwenden. Aber was lässt sich aus der Pandemiegeschichte lernen? Ob eine Krise, wie die aktuelle Coronapandemie, dauerhaft die Mentalität der Menschen ändern kann, ist mehr als fraglich. Vielmehr zeigt sie Schwächen der Gesellschaft wie unter dem Brennglas. Und diese sind seit jeher Egoismus, Neid, soziale Ungerechtigkeit und Konflikte. Jedoch folgte in der Vergangenheit auf eine Krise stets ein Auf- und ein Umschwung. Der Pest folgte die Renaissance, der große Brand von London sorgte für eine moderne Stadtplanung inklusive Brandschutzverordnung, und die goldenen Zwanziger schlossen sich sowohl an das Ende des ersten Weltkrieges als auch an die Spanische Grippe an. So bleibt die Hoffnung, dass sich auch an dieser Krise eine Phase des Auf- und Umschwungs anschließt, die ihrerseits Einzug in das kollektive Gedächtnis als Erinnerungsort findet.

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